03 November 2006

Doch "Frisco"?

Heute Nachmittag steigen wir in den Jumbo nach London – Rückflug. San Francisco verabschiedet sich regnerisch, eine schöne Stadt, für die wir leider zu wenig Zeit haben. Gestern waren wir in Castro, ohne Zweifel das Schwulenzentrum der Stadt. Über die Schwulen gibt es wieder einmal ein modernes Märchen zu erzählen, das ich von einer Erzählerin aus dem Schwabenland kenne (es ist an der Zeit, in diesem Blog endlich auch einmal schwäbische Spezialitäten zu verbreiten. Schließlich belehrt mich ein Blick auf den Sitemeter am Ende der Seite, dass der Anteil der Schwaben unter den geschätzten Rezipientinnen und Rezipienten überdurchschnittlich hoch ist. Zwar werden sie in der Nationenwertung noch unter „Germany“ geführt, doch gäbe es eine genauere Zählung, würden die Schwaben deutlich vor der DDR liegen). Das Märchen verbindet unsere vorgestrige Tour mit dem Cable Car auf originelle Art mit dem gestrigen Besuch in Castro und geht folgendermaßen: Eine Bürgerin dieser großartigen Stadt fiel einmal aus dem Cable Car und stürzte auf den Hintern. Als Folge des Sturzes wurde sie Nymphomanin. Da dies in der Stadt der Schwulen ein ziemlich trauriges Dasein ist, verklagte sie die Stadt...
Abends gehen wir ins SF MOMA. Donnerstags ab 18 Uhr ist dort „Happy Hour“, wir kommen zum halben Preis in den Kulturtempel. Es lohnt sich. In der Designabteilung sind sogar einige Schischuhe ausgestellt – leider nur japanische (dafür gibt es ein Motorrad, an dem ich Teile mit der Aufschrift „Made in Austria“ entdecke).
Abends mache ich noch einen Spaziergang von unserem Hotel in der 4th Street bis hinunter zum Hafen. Es ist noch vor Mitternacht, doch diese riesige Stadt ist wie ausgestorben. Ich wandere durch Hochhausschluchten, gegen die der Potsdamer Platz nun wirklich ein Pup ist. Doch auf den Straßen hier ist es um ein Vielfaches öder als mitternachts am Potsdamer Platz. Einige Arbeitstrupps verrichten die Dinge, die tagsüber nicht getan werden können: Binnen weniger Stunden wird die Halloween-Deko in den Geschäften gegen knallbunten Weihnachtsschmuck ausgetauscht; Straßen werden gesäubert, notwendige Reparaturen durchgeführt. Ansonsten sind nur noch die zahlreichen Obdachlosen zu sehen, die sich für die Nacht in den Hauseingängen eingerichtet haben. Einige schnarchen, andere dirigieren zum Einschlafen noch eine Oper, wieder andere brabbeln etwas vor sich hin, was ein wohlmeinender Beobachter mit einiger Phantasie als Gedichte der Großstadt durchgehen lassen könnte. Die anderen Gestalten, die mir begegnen, scheinen keine guten Pläne mehr für den Tag zu haben – und, wenn alles gut geht, auch keine Schlechten.
Das freundliche, sympathische Mittelschichtamerika ist nicht mehr zu sehen. Die Leute hängen wohl zuhause vor ihren Fernsehern und sehen sich Berichte an über die zunehmende Gewalt in ihren Städten. Vorgestern, an Halloween, hat es in Castro eine Schießerei gegeben, bei der zehn Menschen verletzt worden sind, zwei davon schwer. Ein Anlass ist nicht zu rekonstruieren, außer dem, dass ein Konzert zu Ende ging. Die Politiker ziehen die Sache in ihren Wahlkampf rein. Die Polizei spricht von „Bandenauseinandersetzungen“. Die Verletzten seien aber vermutlich alle Unbeteiligte, verhaftet wurde in Zusammenhang mit den Schüssen niemand. Zahlreiche Festnahmen gab es dagegen wegen Alkoholkonsums in der Öffentlichkeit, darunter, so merkt der Polizeibericht an, „ironischerweise ein Mann, der als Häftling verkleidet war.“
Bei unserem Besuch in Castro gestern wurden wir auch Zeugen einer Festnahme: Etwa zehn Polizisten hatten einen etwa 16-jährigen Schwarzen dingfest gemacht. Der Junge stand an einen Zaun gelehnt, die Hände über dem Kopf, angstvoller Blick. Die Polizisten standen auf dem Gehweg herum, ohne dass sich eine ganze Zeit lang irgendetwas tat. Sie legten dem Jungen keine Handschellen, an, redeten nicht mit ihm, brachten ihn nicht in ein Auto. Sie warteten einfach nur. Mindestens vier der Polizisten telefonierten.
Meine nächtliche Wanderung führt mich durch den Finanzdistrikt hinunter zum Hafen, wo tagsüber zahlreiche Nahverkehrsfähren anlegen. Es ist ein schicker, ein stolzer Hafen, hübsch herausgeputzt mit Palmenalleen. Der einzige Ort, wo etwas los ist, ist die Disco „Sinbad“. Ansonsten ist die Gegend öde und verlassen. Selbst die Leuchtschrift an den frisch renovierten Fassaden hat teilweise schon aufgegeben: __rt of _an _rancisco ist dort zu lesen. Immerhin erfüllt Kalifornien als wichtiger US-Bundesstaat die Verpflichtungen des Kyoto-Protokolls. Insofern nehme ich die Sparbeleuchtung als Zeichen für das hier sehr hoch entwickelte Umweltbewusstsein. Ansonsten hätte ich eine Idee, wie noch mehr Energie gespart werden könnte: Man beleuchtet nachts einfach nur die Buchstaben Fr___isco!

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